Home Page > Karma-Kalender > Ein Besuch bei den German Doctors

Thorge Berger ist Reisefotograf und hat die Bilder für den Karma Kalender 2019 geschossen. Hier schildert er die Eindrücke von seinem Besuch bei den German Doctors in Kalkutta.

Nach fast 15 Stunden Reisezeit dämmert es bereits, als wir in Kalkutta endlich in unser gelbes „Ambassador-Taxi“ steigen. Wir sind erschöpft, aber auch sehr gespannt auf die Stadt und auf die Arbeit der German Doctors, die wir am nächsten Tag erleben dürfen.

Schon früh am Morgen geht es los. Wir fahren mit etwas gemischten Gefühlen zur Sozial-Station „Howrah South Point“. Hier treffen wir Nilima Mallick, eine indischen Ärztin, die uns stolz herum führt, uns alles erklärt und viele ihrer Patienten vorstellt. Schnell verfliegt unser mulmiges Gefühl, denn wir werden von allen sehr freundlich aufgenommen und von der fast schon fröhlichen Stimmung angesteckt.

Auf dem Gelände sind unter anderem eine Kinder-Tuberkulosestation, eine allgemeinen Kinderstation sowie ein Heim für behinderte Kinder untergebracht. Es gibt sogar eine kleine Schule, in der die Kinder unterrichtet werden, die länger hier bleiben müssen. Aber auch für die Mütter, die mit ihren Kindern hier sind, gibt es Angebote. Die Ärzte und Krankenschwestern nutzen diese Zeit und bringen den Frauen etwas über richtige Hygiene, gesunde Ernährung und die Familienplanung bei.

Wir sehen viel Leid, hören sehr traurige Patientengeschichten und treffen zum Beispiel Rimna. Sie sitzt im Rollstuhl. Eine zu spät behandelte Tuberkulose hat dazu geführt, dass sie nie mehr wird laufen können. Dennoch strahlt sie uns mit ihren blitzeblanken großen braunen Augen an, bombardiert uns mit Fragen und bittet uns, etwas in ihr Tagebuch zu schreiben.

Von Nilima erfahren wir, dass sich in Indien Tag für Tag circa 40.000 Menschen mit dem Tuberkulose-Bakterium infizieren. „Eigentlich“ ist Tuberkolose gut heilbar. Die Standard-Therapie ist eine medikamentöse Behandlung mit kombinierten Antibiotika und dauert 6 Monate. Aber 6 Monate lang Medikamente einnehmen ist für die Betroffenen sehr teuer und viele brechen die Behandlung deshalb  zu früh ab. Eine besondere Bedrohung geht aber von den zunehmenden multiresistenten Varianten aus.

In Kalkutta finanzieren die German Doctors zur Zeit die stationäre Langzeittherapie von mehr als 100 Patienten mit komplizierten Verlaufsformen. Zusätzlich werden 250 TB-Patienten ambulant behandelt.

Mit Nilima verlassen wir nach einigen Stunden das Krankenhaus und fahren zu einer der festen Slum-Ambulanzen am Stadtrand von Kalkutta. Täglich fahren drei Teams mit jeweils mindestens zwei Ärzten, Übersetzern und Krankenschwestern nach einem festen Raster in die verschiedenen Behandlungsstationen.

In der Station, die wir besuchen, arbeiten zur Zeit drei Ärzte auf engstem Raum. Eine Gesundheitstation haben wir uns anders vorgestellt. Die Behandlungszimmer sind winzig, die Ärzte sitzen auf Plastikstühlen, die Scheiben in den Fenstern fehlen und ein Standventilator kühlt nicht wirklich, er verteilt lediglich die stickige Luft. Wie wird es hier nur in der Monsunzeit aussehen?

Wir treffen Dr. Tobias Vogt, der bereits seit 15 Jahren hier im Einsatz ist und auch die verschiedenen Projekte der German Doctors in Kalkutta koordiniert.

Mit seinen Kollegen Dr. Schubert und Dr. Perrochet arbeitet Tobias Vogt seit den frühen Morgenstunden im Akkord. Bis heute Abend werden sie ungefähr 150 Patienten behandelt haben, die oft schon mitten in der Nacht aufbrechen und geduldig in langen Schlangen warten, um hier Hilfe zu bekommen. Sie haben Tuberkulose, Malaria, Verbrennungen, Brüche, eiternde Wunden, manche sind extrem unterernährt und entkräftet, leiden schlimm unter Asthma oder Diabetes.

Auf dem Gelände fällt uns ein junger Mann mit seinen beiden kleinen Söhnen auf. Nilima erzählt uns, dass seine Frau erst vor kurzem an einem Herzfehler gestorben ist, der nun auch bei einem der Söhne entdeckt wurde. Die German Doctors werden die kompletten Behandlungskosten übernehmen, um den kleinen Jungen zu retten.

In den staatlichen Krankenhäusern und den Universitätskliniken ist die unmittelbare ärztliche Beratung und Behandlung zwar für alle Menschen kostenlos, jede diagnostische Maßnahme wie Laborbesuche, Röntgen, Ultraschall und dergleichen müssen die Patienten jedoch selber bezahlen. Und auch die verordneten Medikamente, sämtliche Hilfsmittel, sowie die Verbrauchsmaterialien eines chirurgischen Eingriffs tauchen auf den Rechnungen der Patienten auf.

Wir spüren, dass Tobias und auch die beiden anderen Ärzte sich gerne mehr Zeit für uns nehmen würden. Aber sie haben einfach nicht die Ruhe dafür. Zu viele kranke Menschen warten noch auf Hilfe. Zwischen zwei Patienten erzählt Tobias uns aber zum Beispiel, dass sie zu den vielen Health- und Streetworkern in den Slums enge Verbindungen aufgebaut haben und sie aus- und weiterbilden. Viele der Patienten erfahren überhaupt erst von ihnen, dass es die German Doctors und andere NGO’s gibt, bei denen sie Hilfe bekommen können.

Wir erfahren auch, warum die Hilfe der German Doctors so dringend benötigt wird: Wie die meisten Metropolen dieser Welt, so haben auch die in Indien ihre Slums. Die hygienischen und sozialen Bedingungen gelten vor allem in Kalkutta als die furchtbarsten weltweit. Die Menschen in diesen Slums sind nirgendwo registriert und haben damit auch keinen Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem. Und das betrifft geschätzt 2/3 der rund 27 Millionen Einwohner im Großraum Kalkutta.

Gegen 16 Uhr verabschieden wir uns, und auf dem Weg zurück ins Hotel sind wir sehr still. Wir können uns nicht erinnern, wann so viele unterschiedliche Gefühle zuletzt in uns getobt haben. Und so beschließen wir, das Hotel an diesem Tag auch nicht mehr zu verlassen, denn wir spüren, dass wir nicht in der Lage sind, noch mehr Eindrücke zu verarbeiten.

Wir haben größten Respekt vor dem, was die Ärzte hier leisten, die ihren kompletten Jahresurlaub zur Verfügung stellen, ihre Flugkosten selber tragen und für mindestens 6 Wochen ehrenamtlich hier arbeiten. Ein gutes Drittel der Teilnehmer meldet sich zu einem weiteren Einsatz. Das Gefühl, sehr viele Menschen ganz konkret unterstützen zu können, hilft den meisten über viele schwere Stunden und Ohnmachtsgefühle hinweg.

Alle Bilder: © Thorge Berger